Sonntagabend, Netflix ohne Chill. Der US-ansässige Alleinunterhalter bewirbt in unregelmäßigen, aber doch merkwürdig kürzer werdenden Abständen neue Eigenproduktionen, bei denen es um Gesundheit geht (kleiner gesellschaftskritischer Einschub: Meiner Meinung nach leben wir hier den offensichtlichsten Voyeurismus seit rotten.com mit seinen auf der Straße zerschmetterten Unfallopfern). Als unweigerlich Sensibilisierte sieht man mich bei Dokumentationen wie Erkrankt oder Heal jedenfalls direkt mit gespitzten Ohren auf der Kante der Couch hocken.
Ich soll mich einfach entspannen
Doch bislang sah ich meinen Reizdarm (noch) nicht nebst Schimmelpilzempfindlichkeit oder unerklärlichen Muskelzuckungen über unsere Monitore flirren. „Warum eigentlich nicht?“, frage ich mit Blick auf die Dicke meiner Krankenakte und den schauerlichen Gedanken an die vielen Hände mehr oder minder verständnisvoller Docs, die ich in den letzten bald fünf Jahren schon schütteln dürfte.
Meine Diagnose lautete am Ende einer langen Odyssee durch die Praxen in unterschiedlichen deutschen Städten und sogar einer dreiwöchigen Kur im Ausland: Reizdarm. Die Ursache und damit der Schlüssel zur Genesung dafür sitzt, so wollte man mir einreden, wahrscheinlich auf besagter Couch. Ich solle mich einfach öfter entspannen, mehr bewegen, häufiger Ballaststoffe essen und Milchprodukte weglassen. Das ist ungefähr so, als würde man Depressiven raten, doch öfter zu lächeln. Mag sein, dass diese gut gemeinten Ratschläge die Symptomatik etwas lindern – die Ursache aber klären sie nicht.
Ausschlussdiagnose statt Heilungsprognose
Vielleicht ahnt ihr nun, wieso ich beinahe sicher war, mich auf einer Stufe mit den Erkrankten und vom Netflix-Publikum als Verrückte Verlachten wiederzufinden. Ich, die ich mit meinen unerklärlichen Blähungen, den Bauchkrämpfen von Zeit zu Zeit, dem regelrecht benebelten Bewusstsein nach Mahlzeiten, musste – kurz gespoilert – erst vegan werden, um der Beschwerden einigermaßen Herrin zu werden. Eine endgültige, langfristige Heilung kann bei diesem obskuren Krankheitsbild übrigens nicht versprochen werden. Logisch, ist ja am Ende des Tages auch nur eine Ausschlussdiagnose. Daher lautet das Gebot, selbst die Google-Maschine anzuschmeißen und sich über den eigenen Körper schlau zu lesen.
16 Millionen Betroffene, mit weitaus höherer Dunkelziffer
Schnell stößt man bei der Recherche auf Plattformen wie Cara Care, die sich mit ihrem Informations- und Ratgeberportal Reizdarm.One als Helfer in der Kot-Not für das bis zu acht Meter lange Organ verschrieben hat. Ich teile mein Leid der Statistik zufolge mit fast 14 Millionen Menschen in Deutschland.
Das sind sage und schreibe 16,6 Prozent der Bundesrepublik, für die sich die Ärzteschaft kaum, die Medienwelt aber immerhin nach und nach stärker interessiert. So erhielten Beiträge wie die in der Themenwoche von @maedelsabende nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch schnell mit „mir geht’s genauso“ gefüllte Kommentarspalten und dankbare Direct Messages
Der Instagram-Kanal lässt vermuten, dass in Wahrheit noch weit mehr Menschen mit einem Reizdarm kämpfen.
Vegan kann weiterhelfen
Und ich kann verstehen, warum: weil Verdauungsbeschwerden nicht gerade salonfähig sind. Weil Menschen lieber zuhause mit Wärmflasche unter Krämpfen krümmen als offen über Hämorrhoiden und kneifende Hosen dank Umstands-Kugel – einige der vielen unangenehmen Nebeneffekte von Reizdarm – zu sprechen. Und gerade deswegen ist es so notwendig, häufiger und öffentlicher genau das zu tun.
Weil man viel zu oft ganze Vormittage lang Zuckerzeugs getrunken und in Röhrchen gepustet hat, um danach doch immer wieder – und mit der Zeit sogar mit einer gewissen Enttäuschung – festzustellen, dass man auf dem Papier eigentlich alle Lebensmittel verträgt. Und weil man es satt hat, Gesunden zu erklären, dass man trotzdem vorsichtshalber glutenfrei oder ohne Laktose kocht. Was teurer ist und auswärts essen sowieso zu einer kleinen Wissenschaft macht.
Dennoch kann unter Umständen eine vegane Ernährung helfen. Ich habe vor vier Monaten damit angefangen und mir hilft es immerhin, und zwar besser als Heilpraktiken und Sanatorien im Hinterland, die ich bislang ausprobiert habe. Wem vegan allerdings eine Spur zu viel Verzicht ist, kann die Ernährung versuchsweise eine Zeitlang auf FODMAPs tracken.
Mein wichtigster Tipp: Haltet Euren Darm sauber!
Weitere Tipps, die ich dagegen an all’ jene Menschen weitergeben möchte, die sich, von Bauchweh nach der fetttriefenden Weihnachtsgans einmal abgesehen, grundsätzlich gesund wähnen:
- Haltet Euren Darm sauber! Übertreibt es nicht mit dem Alkohol. Oder den Zigaretten, die schaden der Verdauung genauso.
- Nehmt regelmäßig und besser kleine als zu große Mahlzeiten zu Euch, die mehr Gemüse und Obst enthalten als alles andere.
- Vergesst Fertiggerichte und Zuckerzeug, am Besten für immer.
- Und: Medikamente in Maßen, nicht in Massen einnehmen
Q
Mit Antibiotika habe ich nämlich mein Mikrobiom zerstört – damit und mit einem stressigen Alltag als Journalistin, für die FOMO lange Jahre schwieriger erschien als „nein, danke“ und ein schöner Abend allein mit Fußbad, Fencheltee und Lieblingsbuch.
Um die oben gestellte, natürlich auf stürmischen Clickbait Eurerseits abzielende Frage nicht weiter im Raum stehen zu lassen: Nein, liebe Leute, Reizdarm ist keine eingebildete Krankheit. Keine psychosomatische Krankheit – gesetzt den Fall, es handelt sich bei Reizdarm überhaupt und ausschließlich um eine –ist eingebildet. Ebenso wenig, wie eine ,klassische’, organische Krankheit eingebildet ist. Nur, dass diese Tatsache nie jemand in Frage stellen würde. Reizdarm-Kranke dagegen werden öffentlich ungefähr so ernst genommen, als wären ihre Leidensgeschichten tatsächliche Clickbait-Stories auf heftig.co.
6 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielen Dank für deinen tollen Bericht… Ich komme mir nämlich auch so vor als wenn man nicht wirklich ernst genommen wird… Darmspiegelung ausser Divertikel die vorher schon festgestellt waren alles unauffällig… Eine Diagnose wäre mir schon fast lieber gewesen. Esse seit 3 Wochen laktose, gluten und Zucker bzw süßstoffrei… Zuckerfrei schon seit 5 Jahren, wahrscheinlich hat der süßstoff meinen darm geschädigt. Seitdem geht’s mir besser. Entspannen tue ich seit Jahren jeden Tag in der Badewanne, was das ganze aber nicht wirklich besser macht. Von anderen wird man nur nett belächelt und bekommt gesagt “ach das wird schon wieder”. Man entwickelt sogar ne Angst “normal” zu essen, wenn man schon nach einer Scheibe Käse oder einem schluck Cola Bauchweh bekommt.
Ja, leider ist es so, daß kein Test der Welt genau sagen kann, welche Lebensmittel wann und wieviel vom wem vertragen werden. Es gibt “Hauptverdächtige” Inhaltsstoffe die oft für Probleme sorgen, aber jeder Mensch ist anders und der eine kann mit Linsen und der andere mit Erbsen. Manchmal geht morgens Kaffee und am Nachmittag nicht, und Blumenkohl nur Sonntags..und im Urlaub geht vielleicht sogar Milch..
Was man aber tun kann:
1. In Ruhe essen! Klingt banal ist aber wichtig. Im Stressmodus bekommen die Verdauungsorgane wenig Energie (meßbar geringere Durchblutung) die Nahrung wird nicht gut verdaut, gärt vor sich hin, bläht, züchtet unliebsame Darmbakterien heran (unverdaute Eiweiße und Fette sind prima Nährstoff für die Bakterien von denen wir nicht so viele haben wollen)
2. Gut würzen mit allem was das Kräuterregal so hergibt (und was man lecker findet). Küchenkräuter sind kein Wellnessprodukt sondern wertvolle Unterstützung für die Verdauungsorgane -und das fängt beim Schmecken an! Läuft das Wasser im Mund zusammen, dann läuft es auch in den anderen Verdauungsdrüsen! Außerdem halten die ätherischen Öle der Kräuter unerwünschte Keime in Schach! Traditionelle Kombinationen Bohnen+Bohnenkraut, Kichererbsen+Cumin, Kohl + Kümmel,.. sind sinnvoll: schwer verdauliches bekommt ein unterstützendes Kraut zur Seite gestellt.
3. Pro- und Prä- Biotika: Milchsäurebakterien (Sauerkraut) Resistente Stärke (kalte Kartoffeln, grüne Bananen u.a.) fördert die guten Darmbakterien und sorgt für einen optimalen pH-Wert im Darm.
4. Schleim zu Schleim: zum Beispiel gekochter Hafer, Leinsamen, schützt die Darmschleimhaut und das Immunsystem
5. Entspannt essen! In Ruhe essen! Kauen! Achtsamkeit
6. Sein eigener Detektiv sein und nicht einfach alles weglassen.. und auch nix essen was man nicht mag.
7. Bitterstoffe (zum Beispiel ein Tee vor dem Essen) regen die Verdauungsdrüsen an.
8. Keine Konservierungsmittel, keine künstlichen Emulgatoren, keine Smoothies
9. Immer was zum Essen dabei haben (Nüsse, Pausenbrot) damit man nicht in die Verlegenheit kommt was “Dummes” zu essen.
Hallo Simone, genau das trifft es, Lebensmittel die vorher kein Problem waren und dann Zack machen genau diese Ärger… Und immer steht man alleine damit weil iwie alle meinen man hat einen an der Waffel
Hallo Simone, hallo Daniela,
vielen Dank Ihnen beiden für Ihre Kommentare. Ich kenne diese ,für verrückt gehalten werden’ sehr gut von meinen unzähligen Ärzt:innenbesuchen…ehe ich irgendwann beschlossen habe, mich mehr auf mich selbst zu verlassen, auf meine Intuition zu hören. Es hilft, aber zu oft kommt Stress (auch Angst genannt) dazwischen. Stress ist eindeutig Gift für die Verdauung.
Ihre Tipps finde ich insgesamt sehr hilfreich, Simone, vielen Dank dafür. Vieles davon lässt sich einfach umsetzen, ebenso vieles braucht meiner Erfahrung nach Übung. Gerade die Achtsamkeit…es ist nicht einfach. Ich empfehle eine Beschäftigung mit den Programmen von Cara Care (Reizdarm One).
Ich wünsche Ihnen Gesundheit für Seele und Darm!
Lieber Herr Furer,
vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte hier mit uns teilen! Es ist unglaublich, wie lange Menschen mit unserer Problematik leiden müssen, ehe ihnen wirklich geholfen wird. Leider ist die Medizin, was das betrifft, noch sehr nachlässig…umso wichtiger, dass Menschen wie Sie Ihre Erfahrungen diskutieren.
Herzliche Grüße!
Hallo zusammen
Ich erinnere mich an meine eigene Diagnose, als mein damaliger Arzt meinte, ich habe Reizdarmsyndrom. Erst einige Monate später, bei einem anderen Arzt, wurde festgestellt und mir erklärt, ich habe Morbus Crohn. Scheinbar ist die korrekte Diagnose nicht immer ganz so einfach herauszufinden. Das war eine schwierige Zeit damals für mich, zig unterschiedliche Medikamente, unterschiedliche Diagnose usw. Doch wenigstens habe ich heute meinen Weg gefunden (10 Jahre mit MC), kann gut damit leben. Was ich essen kann und was nicht, was ich vertage, was nicht, brauchte einige Jahre, das für mich herauszufinden. Nicht 100% was hier steht:
https://www.morbus-crohn-news.de/welche-lebensmittel-schuetzen-den-darm-welche-zerstoeren-ihn/
…. Aber ziemlich genau das, wie es bei mir ist.
Beste Grüsse