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AutorenbildHannes Kolbe

Präzisionsprävention 2.0: Attention is all you need.

Aktualisiert: 1. Juli

Die Welt der Prävention und Gesundheitsförderung steht vor einer Revolution. Das traditionelle Modell, unflexible Präventionsangebote nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen und vor allem diejenigen anzusprechen, die bereits ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben, ist gescheitert. Das Dilemma: Viele Präventionsangebote erreichen nicht die Menschen, die sie am dringendsten benötigen - insbesondere diejenigen mit geringer Gesundheitskompetenz. 


Um dem entgegenzuwirken, entstand schnell die Idee der „Präzisionsprävention“. Stellen wir uns vor, ein Unternehmen möchte Präventionsmaßnahmen gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen anbieten. Mit Hilfe von Daten aus Wearables oder anderen Messungen sollen die Präventionsangebote gezielt den Personen angeboten werden, die aufgrund eines ungünstigen Lebensstils oder ihrer genetischen Veranlagung ein erhöhtes Risiko haben. Also weg von der Gießkanne, hin zu präzisen Vorschlägen für die richtigen Personen zum richtigen Zeitpunkt.


Was bisher vernachlässigt wurde, ist der Mangel an maßgeschneiderten Gesundheitsangeboten, die genau auf die individuellen Lebensumstände zugeschnitten sind. Es nützt nichts, einer Couch-Potato einen Bewegungskurs anzubieten: In den wenigsten Fällen scheitert es an mangelnder Information. Für diese Zielgruppen gibt es nichts Unattraktiveres, als sich mit präventivem Gesundheitssport oder mediterraner Ernährung auseinanderzusetzen. Die Maßnahmen müssen in der Lebenswirklichkeit der Menschen stattfinden, sonst werden sie schlichtweg ignoriert.


Wie intelligente Datennutzung mit KI-Algorithmen die Gesundheitsvorsorge revolutionieren kann 

Die Lösung könnte genauso lauten wie das bahnbrechende Grundlagenpapier der neuen Generation künstlicher Intelligenz: Attention is all you need (=Aufmerksamkeit ist alles, was man braucht). Darin wird eine neuartige Architektur für die Verarbeitung natürlicher Sprache vorgestellt, die die traditionellen neuronalen Netze durch einen Mechanismus der Selbstbeobachtung ersetzt. Dies ist heute die am häufigsten verwendete Architektur für Anwendungen wie ChatGPT von OpenAI, Google Gemini oder Midjourney's bildgenerierende KI.


Schauen wir uns zunächst an, wie die Aufmerksamkeitsökonomie in den sozialen Medien funktioniert. Sobald Nutzer*innen TikTok oder Instagram öffnen, wird der Algorithmus dahinter aktiviert, der mit immer zunehmender Genauigkeit das perfekte Video oder den perfekten Beitrag als Nächstes anzeigt, damit sie in der App bleiben und mehr konsumieren. Die meisten Menschen haben also immer eine Technologie auf ihrem Smartphone dabei, die einfach berechnet, welches Foto, Katzenvideo, gefälschte Zitat oder was auch immer dem Nervensystem der Nutzer*innen gezeigt werden muss, damit sie weiter scrollen.  

Solche Algorithmen haben es geschafft, Millionen von Menschen von den sozialen Medien abhängig zu machen, sie mit demokratiegefährdenden Falschinformationen zu überfluten und Gesellschaften zu polarisieren, indem sie immer raffiniertere Aufmerksamkeitsanreize setzen.


Warum also nicht diese Instrumente für etwas Gutes nutzen und die Menschen für gesundheitsförderndes Verhalten sensibilisieren? Es ist an der Zeit, dass Gesundheitsexpert*innen Hand in Hand mit Programmierer*innen arbeiten, um Algorithmen und Large Language Modelle zu trainieren, die bei ihren personalisierten Vorschlägen auch soziale und psychologische Aspekte des Nutzer*innenverhaltens berücksichtigen. Gelingt das, bekommen wir zum ersten Mal gesundheitsfördernde Aufmerksamkeitsreize in die Lebensrealität der Menschen und können das Ganze sogar skalieren – damit befinden wir uns in der Präzisionsprävention 2.0.


Wie kann das konkret aussehen?

Nach der Erstellung eines personalisierten Gesundheitsprofils auf Basis von Wearables oder Apps wie „Google/Apple Health“ kann dieses Profil mit Alltags-Apps wie Lieferando, YouTube, Pinterest und Co. verknüpft werden. Ohne zusätzlichen Aufwand schlägt die Essensliefer-App der Wahl dann statt der Gyrospizza gesunde Gerichte vor, die dem persönlichen Geschmack entsprechen. Ein KI-gestützter Gesundheitsassistent erklärt zudem, warum gerade dieses Gericht besonders geeignet ist und welche positiven Auswirkungen diese Ernährung auf den Körper hat. Für alle Hauptbereiche der individuellen Gesundheitsförderung wie Bewegung, Ernährung, Stressbewältigung und Schlaf lassen sich noch unzählige weitere Umsetzungsmöglichkeiten finden.


Hürden und festgefahrene Strukturen überwinden

Datenschutzrechtliche und ethische Bedenken gegenüber einer solchen Personalisierung sind aus meiner Sicht völlig unangebracht und werden gerade in der „Gesundheitsblase“ viel zu hoch priorisiert. Wie Sascha Lobo (Kolumnist, Autor und Speaker) in seinen Vorträgen immer so treffend sagt: Die Menschen LIEBEN es, ihre Daten zu teilen. Wie sonst lassen sich die erfolgreichen sozialen Netzwerke erklären, in denen sich Menschen freudig über ihre Geschlechtskrankheiten austauschen? 


Digitale Teilhabe und Vertrauen als Schlüsselfaktoren

Präzisionsprävention 2.0 muss auch die Zugänglichkeit für alle gewährleisten. Es braucht Strategien, die sicherstellen, dass niemand aufgrund von technischen Hürden oder mangelndem Zugang zu digitalen Geräten ausgeschlossen wird. Gesundheitsvorsorge in der digitalen Welt darf nicht zu einer neuen Form der Ungleichheit werden. Für diese Gruppe der digital Abgehängten gibt es bereits einige interessante Ansätze, wie zum Beispiel „enna“. Damit können vor allem ältere Menschen durch das Auflegen einer Karte auf eine Station verschiedene digitale Dienste wie Videoanrufe, Fotos teilen und YouTube nutzen. Das System soll älteren Menschen den Umgang mit Technik erleichtern und ihnen helfen, mit Familie und Freund*innen in Kontakt zu bleiben. Auch hier gilt wieder: Attention is all you need.


Nun stellt sich die Frage, wer das Ganze in die Tat umsetzen soll. Das Social-Media-Dilemma macht schnell klar, dass profitorientierte Tech-Giganten nicht die vertrauenswürdigsten Gesundheitsdienstleister wären. Die Aufmerksamkeit im Gesundheitssektor kann schnell missbraucht werden, um zum Beispiel unnötige Nahrungsergänzungsmittel oder überteuerte Testkits zu verkaufen. 

In diesem Zusammenhang sehe ich die Krankenkassen in einer entscheidenden Rolle. Sie können als transparenter Mittler fungieren, die technologische Innovationen mit den Bedürfnissen ihrer Versicherten verknüpfen. Dazu müssen innovative Geschäftsmodelle entwickelt werden, die sowohl den Nutzen für die Versicherten maximieren als auch wirtschaftlich tragfähig sind. Gelingt dies, können sie als eine der vertrauenswürdigsten Institutionen im Gesundheitswesen zum Dreh- und Angelpunkt für die Menschen werden und ihnen mit der Macht der Aufmerksamkeit helfen, ihre Gesundheit proaktiv zu managen.


Letztlich birgt die Kombination von Datennutzung und KI in der Prävention ein enormes Potenzial, das Gesundheitssystem nachhaltig zu verbessern. Die Aussicht, die Gesundheitsspanne jedes Individuums zu erhöhen und nicht nur die Lebensjahre bei schlechter werdender Gesundheit und zunehmender Pflegebedürftigkeit zu verlängern, ist eine Vision, die alle Anstrengungen wert ist. Präzisionsprävention 2.0 könnte der Beginn einer tiefgreifenden, präzisen und personalisierten Gesundheitswende sein - einer Wende, die wir gerade jetzt so dringend brauchen.


 

Bei dem Titelbild handelt es sich um ein KI-generiertes Bild.


Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die des Autors und stehen in keinem Zusammenhang mit anderen Organisationen oder Unternehmen.



Über den Autor:




Hannes Kolbe arbeitet im Gesundheitsmanagement der AOK Nordost zu den Themen Prävention und Künstliche Intelligenz. Ehrenamtlich unterstützt er die Community-Aktivitäten beim Podcast “Visionäre der Gesundheit (m/w/d)” von Inga Bergen, ist Vorsitzender seines Beachhandballvereins “BHC Beaching Bad Minden” und Mitglied bei #Gesundheit.







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