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Ach, damals

„Ach, damals, als ich im Gesundheitswesen angefangen habe, war alles ganz anders als heute.“ Diesen Satz höre ich oft, vielleicht viel zu oft, aber er trifft einen wahren Kern. Damals hatten die älteren Generationen tatsächlich einen Vorteil, denn der heutige Personalmangel war noch kein Thema. Doch es gab auch Schattenseiten: Einen Job zu bekommen, war eine echte Herausforderung, da die Konkurrenz so groß war. Für die meisten war es schon ein Erfolg, überhaupt eine Stelle zu finden und diese auch langfristig zu behalten.


Die ersten Jobs als AiP (Arzt im Praktikum) waren oft miserabel bezahlt, die Arbeitszeiten unerträglich, die Zukunftsaussichten unsicher, und viele mussten sich mit befristeten 1-Jahres-Verträgen abfinden (Keller & Wilkesmann, 2014). Unter solchen Bedingungen würde heute wohl kaum jemand eine Karriere in der Medizin in Betracht ziehen. Doch seit diesen Tagen hat sich viel verändert: Unsere Gesellschaft ist nicht nur älter, sondern auch kränker geworden. Der Personalmangel im Gesundheitswesen ist zu einer harten Realität geworden, die uns täglich begleitet. Dennoch geben die meisten jungen Ärzt*innen in repräsentativen Umfragen des Hartmannbundes an, dass sich nicht an schriftlich festgehaltene Regelungen gehalten wird: so arbeiten beispielsweise neun von zehn jungen Ärzt*innen mehr als es ihrem Stellenanteil entspricht (Hartmannbund, 2022). Gleichzeitig finden sich drei von vier Berufsanfänger*innen regelmäßig in Situationen wieder, in denen sie sich nicht ausreichend vorbereitet und alleine fühlen (Hartmannbund, 2019). Opt-Out-Erklärungen zur Vertragsunterzeichnung, also der “Freischein” für Arbeitgeber, angestellte Ärzt*innen mehr als acht Stunden pro Tag oder 48 Stunden pro Woche einzusetzen, sind gängige Praxis und werden dennoch oft missachtet (Osterloh, 2018).


Da stellt sich oft die Frage: Was bedeutet das für die junge Generation, die jetzt ins Berufsleben eintritt? Müssen wir uns ernsthaft Sorgen um unsere Zukunft machen?


Die gegenwärtigen Strukturen im Gesundheitswesen sind alles andere als optimal. Insgesamt müssen wir unsere Arbeitsweise effizienter gestalten und einen stärkeren Fokus auf Prävention legen. Zudem kann nicht genug betont werden, Arbeitsplätze im Gesundheitswesen attraktiver zu machen, sonst wird es bald nicht mehr so weitergehen können. Denn als junger Mensch im Gesundheitswesen habe ich heutzutage kein Problem, einen Job zu finden (Deutsche Krankenhausgesellschaft, 2022). Ob in der Forschung, in der Industrie, in Krankenhäusern oder in ambulanten Einrichtungen – die Möglichkeiten sind zahlreich und vielfältig. Stellenangebote gibt es momentan wie Sand am Meer und junge Menschen können und werden sich Arbeitsplätze je nach Arbeitsbedingungen und individuellen Vorstellungen aussuchen. Doch trotz all der Diskussionen über notwendige Veränderungen scheint sich wenig wirklich zu bewegen. Es wirkt oft so, als ob viel geredet, aber wenig tatsächlich umgesetzt wird.


Ich denke oft: Persönlich leidet die junge Generation derzeit nicht unter der schlechten Versorgung und in ein paar Jahren werden vor allem diejenigen betroffen sein, die heute Entscheidungen treffen. Deshalb appelliere ich an die Verantwortlichen: Wir müssen mehr tun als nur zu reden. Unser Ziel sollte es sein, zahlreiche Best Practices, wie zum Beispiel die Einführung einer 4-Tage-Woche der Hochtaunus-Kliniken (kma, 2023), zu testen und bei guter Evaluation umzusetzen und Mitarbeitenden anzubieten. Andernfalls werden Arbeitgeber bald noch mehr Mitarbeitende verlieren, sei es in der Forschung, im Labor oder in der Hausarztpraxis.


Kürzlich reagierte eine Universitätsprofessorin im Rahmen einer Podiumsdiskussion auf meine Aussagen mit den Worten, sie würde jemanden wie mich niemals einstellen. Ihrer Meinung nach sollte ich als Arzt bereit sein, diese meiner Meinung nach inhumanen Arbeitsbedingungen hinzunehmen, weil ich mich für den ärztlichen Beruf entschieden habe und somit immer für meine Patient*innen da sein müsse. Ich erntete großen Zuspruch im Plenum, als ich ihr antwortete, dass ich mich bei solchen Einstellungen ohnehin nie in derartigen Abteilungen bewerben würde.


Dabei ist es doch eigentlich gar nicht so schwer. Wir verlangen nicht mehr als andere Branchen: eine 40-Stunden-Woche (Marburger Bund, 2022), eine angemessene Bezahlung und eine angenehme Arbeits- und Lernatmosphäre. Aktuelle Studien und Meinungen, wie zum Beispiel eine von Hashtag Gesundheit im Jahr 2023 durchgeführte Umfrage zu Wünschen und Erwartungen von Young Professionals an ihr Arbeitsumfeld (Martius, 2024), zeigen, dass individuelle Weiterentwicklungsmöglichkeiten, flexible Arbeitszeiten und eine angemessene Bezahlung entscheidend sind. Damit können wir mehr auf den Nachwuchs zugehen und bestehende Mitarbeitende halten. Denn das Wichtigste ist, jede*r einzelnen Mitarbeiter*in zuzuhören und ihre individuellen Bedürfnisse ernst zu nehmen. Nur so können wir ein Arbeitsumfeld schaffen, das motiviert und langfristig erfolgreich ist. 



 

Quellen:


Deutsche Krankenhausgesellschaft. (2022)). KRANKENHAUSBAROMETER. Deutsche Krankenhausgesellschaft. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.dkgev.de/fileadmin/default/Mediapool/3_Service/3.5._Publikationen___Downloads/3.4.5._Krankenhaus_Barometer/Krankenhaus-Barometer_2022.pdf


Hartmannbund. (2019). Arbeitszeitgesetz bloße Makulatur – Personalnot gefährdet (auch) Patienten. Assistenzarztumfrage. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.hartmannbund.de/presse-media/presse/arbeitszeitgesetz-blosse-makulatur-personalnot-gefaehrdet-auch-patienten-digitalisierung-in-den-kinderschuhen-reinhardt-fesseln-der-oekonomie-gemeinsam-sprengen/


Hartmannbund. (2022). Umfrage zu Salutogenese junger Ärzt:innen: Gesundheitssystem sieht keine Gesundheit für die Ärztinnen und Ärzte vor » Hartmannbund. Hartmannbund. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.hartmannbund.de/berufspolitik/umfragen/weiterbildung/umfrage-zu-salutogenese-junger-aerztinnen-gesundheitssystem-sieht-keine-gesundheit-fuer-die-aerztinnen-und-aerzte-vor/


Keller, B., & Wilkesmann, M. (2014). Untypisch atypisch Beschaeftigte. Honoraraerzte zwischen Befristung, Leiharbeit und (Solo-)Selbststaendigkeit (Untypical atypical employees. Locum doctors between limited contracts, temporary employment, and solo-self employment). EconPapers. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://econpapers.repec.org/article/raiindbez/doi_3a10.1688_2findb-2014-01-keller2.htm


kma. (2023). Work-Life-Balance: Hochtaunus-Kliniken wagen Vier-Tage-Woche für alle. kma Online. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.kma-online.de/aktuelles/klinik-news/detail/hochtaunus-kliniken-wagen-vier-tage-woche-fuer-alle-50610


Marburger Bund. (2022). MB-Monitor 2022: Zu wenig Personal, zu viel Bürokratie, unzulängliche Digitalisierung. Marburger Bund. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.marburger-bund.de/bundesverband/themen/marburger-bund-umfragen/mb-monitor-2022-zu-wenig-personal-zu-viel-buerokratie


Martius, F. (2024). Hashtag Gesundheit: „Das Sektorendenken überwinden“. Pharma Fakten. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://pharma-fakten.de/news/hashtag-gesundheit-das-sektorendenken-ueberwinden/


Osterloh, F. (2018). Opt-out-Erklärung: Was Ärzte beachten sollten. Deutsches Ärzteblatt. Zuletzt abgerufen am 31.07.2024, von https://www.aerzteblatt.de/archiv/202845/Opt-out-Erklaerung-Was-Aerzte-beachten-sollten



 

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die des Autors und stehen in keinem Zusammenhang mit anderen Organisationen oder Unternehmen.



Über den Autor:




Jonas Cittadino ist Arzt und Data Scientist. Er befindet sich momentan in seiner Assistenzarztweiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin und arbeitet in der Zentralen Notaufnahme am Humboldt Krankenhaus in Berlin. Zudem forscht er zu digitalen und innovativen Lösungen in der Allgemeinmedizin am Institut für Allgemeinmedizin an der Universität Schleswig-Holstein am Campus Lübeck. Ehrenamtlich engagiert er sich beim Verein #Gesundheit und der Jungen Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin. 

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