Lympherkrankungen – Das vergessene Leiden

Anja Heckendorf & Henry Schulze
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Über vier Millionen Menschen sind laut Schätzungen alleine in Deutschland erkrankt – davon lebt ein Großteil ohne Diagnose und adäquate Behandlung: Lympherkrankungen sind bis heute ein blinder Fleck in der medizinischen Ausbildung. Henry Schulze, Lymphtherapeut und Ausbilder, will das gemeinsam mit dem Verein Lymphologicum ändern. „Wir brauchen eine funktionierende Kette der Versorgung, die sowohl Kompressionsversorger, als auch den Arzt miteinschließt. Nur so kann Patienten schnell und effektiv geholfen werden.“ Wie das gelingt und wo es hakt, erzählt er im Gespräch mit Hashtag Gesundheit Mitglied Anja Heckendorf.

Die Energie sprudelt durch den Telefonhörer, wenn Henry Schulze zu sprechen beginnt. Seit 15 Jahren ist er praktizierender Lymphtherapeut mit Leidenschaft. Seit drei Jahren auch in der Ausbildung tätig. „Es ist ein faszinierendes Feld. Langweilig wurde mir in all den Jahren noch nie“, sagt er überzeugt. Bei 40.000 angeborenen und 80.000 erworbenen Lymphödemen alleine in Deutschland ist das wenig verwunderlich. „Die meisten der Patienten kommen mit sekundären Schädigungen des Lymphsystems zu uns, die oft Folge von Krebstherapien sind“, erklärt er. „Das kann einen ganz schön mitnehmen, wenn man weiß, dass man zwar Schmerzlinderung betreibt, der Krebs dadurch aber nicht besiegt wird“, fügt er hinzu. Eine psychologische Ausbildung für Lymphtherapeuten oder Physiotherapeuten im Allgemeinen ist im Lehrplan nicht vorgesehen. „Eine Schande“, meint Schulze. Und auch sonst, gibt es viel, dass er gerne vorantreiben und verändern möchte.

Von Ahnungslosigkeit bis Falschdiagnose: Ärzten fehlt das Wissen

Damit ist er nicht alleine. Der Verein Lymphologicum, in dem Henry Schulze Mitglied ist, hat es sich auf die Agenda gesetzt, die Qualität und Vernetzung lymphologischer Versorger in Deutschland zu fördern. Zentraler Punkt ist dabei die Einbindung des Arztes. „Immer wieder sehe ich Patienten, die von ihrem Arzt abgewiesen werden oder eine völlig falsche Behandlung erhalten. Denn: Die Lymphologie ist für die meisten Ärzte nach wie vor ein blinder Fleck. Das ist fatal und in der Realität schmerzhaft für alle Betroffenen“, berichtet der Lymphtherapeut. Die Zahlen bestätigen das eindrucksvoll. Nur 6 % der Ärzte in Deutschland kennen sich mit der Erkrankung aus. „Und damit sind wir sogar weltweit führend“, wirft Schulze empört ein. „Natürlich gibt es die engagierten Professoren, die z. B. einen Lehrstuhl in plastischer Chirurgie haben und diese Themen mitlehren. Aber solange diese Veranstaltungen keine Pflicht für die Studenten sind, wird sich das Wissensniveau kaum verbessern“, gibt er zu Bedenken. Er regt deshalb an, dass Universitäten und medizinische Fakultäten die Erkrankung endlich in den Lehrplan aufnehmen. „Am Ende sind wir schließlich auch weisungsgebunden. Wir können nicht einfach proaktiv auf die Patienten zugehen. Der Arzt muss die Behandlung verschreiben – und auch in der Nachsorge unterstützen“.

Forschung damals und heute auf Umwegen

Die Lymphologie ist eine vergleichsweise junge Entdeckung. Die ersten Aufzeichnungen zur Lymphtherapie gab es zwar schon in den 1860er Jahren durch den Arzt Alexander von Winiwarter. Wie so oft mit wertvollen Wissensschätzen, sind diese aber während eines Jahrhunderts in völlige Vergessenheit geraten. Eine traurige Tatsache für alle Patienten, meint Henry Schulze. „Vermutlich wären wir heute schon deutlich weiter, wenn kontinuierlich an der Forschung weitergearbeitet worden wäre“. Mit Dr. Emil Vodder kämpfte sich die Lymphologie zurück ins therapeutische Rampenlicht. Zunächst in der Kosmetik etabliert, wurde sie weiterentwickelt und in den 1960er Jahren auch als anatomische Erkrankung anerkannt. „Leider wird aber bis heute aus wirtschaftlichen Gründen zu wenig in die Forschung investiert. Aktuell gibt es daher keine Medikamente, die helfen könnten.“, erläutert Schulze. Auch vielversprechende technische Entwicklungen seien in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, noch nicht ausreichend etabliert. „Es wäre schon längst möglich, durch die Injektion einer Indo-Cyanin-Grün (ICG) Lösung Lymphgefäße während der Behandlung sichtbar zu machen. Leider gibt es für den subkutanen Einsatz bislang keine Zulassung. Daher tappen wir weiter im Dunkeln“. Von einer evidenzbasierten manuellen Lymphdrainage sei man in Deutschland daher noch weit entfernt.

Engagement für eine bessere Versorgung

Viele Gründe für Lymphtherapeut Henry Schulze engagiert zu bleiben: „Bis wir eine komplette flächendeckende Versorgungskette haben, die reibungslos ineinandergreift, wird es wohl noch etwas dauern. Ich kann nur jeden ermuntern, sich in mit diesem spannenden Feld vertraut zu machen. Egal ob als zukünftiger Lymphtherapeut oder als behandelnder Arzt.“ Die Weiterbildung zum Lymphtherapeut geht vier Wochen und setzt eine Ausbildung zum Physiotherapeuten oder medizinischen Masseur voraus.

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Henry A. Schulze

Henry Schulze ist Jahrgang 1983 und seit 1999 in der Physiotherapie tätig. Seit 2005 hat er sich der Lymphtherapie verschrieben. Als Assistenzlehrer für MLD/KPE gibt er seinen Schüler seine Leidenschaft weiter. Er ist Mitglied von Lymphologicum e.V. und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie e.V. Neben zahlreichen Referententätigkeiten ist im September auch ein Buch zum Thema erschienen, bei dem er Co-Autor war. Sein Motto: Gute Lymphtherapie funktioniert nur mit Leidenschaft, Engagement, Idealismus und einer großen Portion Neugier.

Durch meine Mutter, eine passionierte Krankenschwester, bin ich schon sehr früh mit den Herausforderungen und teils Ungerechtigkeiten des Gesundheitssystems konfrontiert worden. Nach meinem Politikbachelor habe ich die politischen Voraussetzungen verstanden, die zu diesen Problemen führen. Mit meinem Master in Kommunikation habe ich gelernt, sie öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Gleichzeitig habe ich starkes Interesse an der Arzneimittelforschung gewonnen – die Forschung, die Menschen weltweit das Leben verbessert und verlängert. Mit meiner Tätigkeit in einem der großen forschenden Pharmaunternehmen kann ich dem hauptberuflich nachgehen und lerne nebenbei über die Notwendigkeit und das Potenzial der Datennutzung in der Entwicklung innovativer Medikamente.

Anja Heckendorf

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